Kino des 20. Jahrhunderts: Wiederkehr, Erneuerung und kollektives Arbeiten

Kino des 20. Jahrhunderts: Wiederkehr, Erneuerung und kollektives Arbeiten
Kino des 20. Jahrhunderts: Wiederkehr, Erneuerung und kollektives Arbeiten
 
Das erste Jahrhundert seines Bestehens hat gezeigt, dass das Kino wechselnden Moden unterworfen ist, die zyklisch wiederkehren: Immer wieder erfolgreich waren und sind große romantische Liebesgeschichten mit oftmals melodramatischen Untertönen. Von Filmen mit Greta Garbo in den Zwanzigerjahren über »Vom Winde verweht« (1939) von Victor Fleming, »Love Story« (1969) von Arthur Hiller und »Jenseits von Afrika« (1985) von Sydney Pollack reicht die Kette bis zu »Pretty Woman« (1990) von Garry Marshall und »Titanic« (1997) von James Cameron. Gemeinsam ist diesen Filmen, dass Mann und Frau unterschiedlichen sozialen Klassen entstammen und die Liebe erst in der Überwindung dieser Gegensätze ihre wahre Größe zeigen kann.
 
Der Untergang des britischen Luxusliners Titanic ist einer der Stoffe, die im Laufe der Jahrzehnte immer wieder verfilmt wurden. Neue Versionen bereits existierender Filme, die sich mehr oder minder detailgetreu auf den oder die Vorgänger beziehen, entstanden meist dann, wenn dem Stoff mithilfe technisch-ästhetischer Neuerungen - sei es die Einführung des Tons, der Farbe oder der Breitwandformate - bislang unbekannte, interessante Aspekte abgewonnen und neue zeithistorische Bezüge hergestellt werden konnten. Zudem minderte der Rückgriff auf bereits erfolgreich erprobte Sujets das ökonomische Risiko. Manchmal überschritten Remakes die Genregrenzen - wenn Komödien der Dreißiger- und Vierziger- die Vorlage für Musicals der Fünfzigerjahre lieferten wie Lubitschs »Ninotschka« (1939) für Mamoulians »Seidenstrümpfe« (1957) und Cukors »Die Nacht vor der Hochzeit« (1940) für Charles Walters »Die oberen Zehntausend« (1956) -, und in selten Fällen gar die Grenzen verschiedener Kulturkreise - wenn amerikanische Western wie »Die glorreichen Sieben« (1960) von John Sturges und »Carrasco, der Schänder« (1964) von Martin Ritt mit den Filmen von Kurosawa »Die sieben Samurai« (1953) und »Rashomon« (1950) japanische Vorbilder hatten.
 
Auch Zeitabschnitte erleben eine Renaissance: So hat das amerikanische Kino der späten Neunzigerjahre in Filmen wie Formans »Larry Flynt - Die nackte Wahrheit« (1996) und Ang Lees »Der Eissturm« (1997) die Siebzigerjahre wieder entdeckt. Mithilfe von Mode, Design, Architektur und Musik wird das Lebensgefühl dieses Jahrzehnts rekonstruiert und dessen (scheinbare) sexuelle Libertinage thematisiert. Auch die Stars jener Jahre sind wieder gefragt, so Burt Reynolds. Und schließlich lebt mit dem Revival der Siebzigerjahre auch ein typisches Genre dieser Zeit wieder auf: der Katastrophenfilm. Das Genre wurde im Rahmen der technischen Möglichkeiten der Neunzigerjahre einer Revision unterzogen: Waren die Katastrophen in den Siebzigerjahren noch in realen Dekors und mithilfe von Modellen nachgestellt worden, so sind sie heute computergeneriert: Deshalb können Wirbelstürme über die Leinwand fegen oder Vulkane ihre Lava auf sie ergießen - Naturphänomene, die vor 20 Jahren mit der Tricktechnik noch nicht zu erzeugen waren. Auch Flugzeugabstürze haben im Kino nichts von ihrer Faszination eingebüßt, doch wird in zeitgenössischen Filmen wie »Con Air« (1997) von Simon West das Augenmerk nicht mehr auf die Schicksalgemeinschaft der Passagiere gerichtet, sondern das Katastrophenmotiv mit einer Kriminalgeschichte verwoben, in deren Mittelpunkt ein individueller Held steht.
 
Der Computertechnologie verdankt auch der Sciencefictionfilm neue Impulse, dem seit Ende der Fünfzigerjahre - abgesehen von den »Star Trek«-Filmen (1979-91) unter anderen von Robert Wise und der »Krieg-der-Sterne«-Trilogie (1977-83) von George Lucas - kein großer Erfolg mehr zuteil geworden war. Die Eroberung der Erde durch fremde »Zivilisationen« wie in Roland Emmerichs »Independence Day« (1996) und Paul Verhoevens »Starship Troopers« (1997) war ebenso ein Topos des Fünfzigerjahre-Kinos wie die drohende Zerstörung unseres Planeten durch Meteoriten, die »Deep Impact« (1998) von Mimi Leder wieder thematisierte. Selbst dem nach einer atomaren Explosion zum Leben erwachten prähistorischen Monster »Godzilla« - ursprünglich eine Ausgeburt des durch die amerikanischen Atombomben verursachten kollektiven Traumas der Japaner - nahm sich das Kino erneut an und transferierte den Populärmythos 1998 mithilfe des Regisseurs Roland Emmerich von der japanischen in die US-amerikanische Kultur. Die Revitalisierung aus der Mode gekommener Genres ist aber keine Erfindung der Neunzigerjahre. In den späten Sechziger- und in den Siebzigerjahren entdeckte Hollywood zum Beispiel den Kriegsfilm wieder.
 
Der Erfolg von Filmen wie »Titanic« oder »Godzilla« zeigt, dass spektakuläre Schauwerte nach wie vor maßgeblich zum Erfolg eines Filmes beitragen. Früher schlugen sich die »Produktionswerte« in den Bauten, der Ausstattung, den Kostümen und in der Anzahl der Statisten nieder. Mit Vordringen der Elektronik sind an deren Stelle zunehmend die mittels von Computern erzeugten Schauwerte getreten.
 
Während vor 100 Jahren die Pioniere ihre Filme als Unternehmer, Erfinder, Techniker, Drehbuchautoren, Kameramänner, Dekorateure, Schauspieler, Kopiermeister, Cutter, Vorführer und Kassierer in Personalunion herstellten und auswerteten, sind heute oft Hunderte oder gar Tausende von Spezialisten am Produktionsprozess beteiligt. Die moderne Filmproduktion gleicht der Aufführung eines Konzerts: Jedes Instrument ist von Bedeutung, aber erst im Zusammenspiel gewinnt das Werk Gestalt. Statt der filmischen Sinfonie zu lauschen, sind die Kritiker allzu oft damit beschäftigt gewesen, den Dirigenten und die Solisten zu bestimmen. Der arbeitsteilige Charakter des Mediums hat die Kunstkritik immer wieder irritiert: Von anderen Disziplinen gewohnt, schöpferische Werke als individuelle Leistungen zu betrachten, tut sie sich mit dem kollektiven Schaffensprozess beim Medium Film und dessen industrieller Produktionsweise schwer. Von Beginn an gab es Personalisierungsstrategien, die den Film mit dem tradierten bürgerlichen Kunstverständnis in Einklang zu bringen suchten. Unter dem Einfluss der französischen Kritiker der Fünfzigerjahre blieben selbst einige Regisseure des amerikanischen Studiosystems nicht dagegen gefeit, als weitgehend alleinverantwortliche, genialische Schöpfer vereinnahmt zu werden. Jeder von ihnen wurde als »Autor« proklamiert, der in seinen Filmen eine individuelle Weltsicht entwirft. Die Suche nach einer unverwechselbaren Handschrift wurde zum maßgeblichen, oftmals alleinigen Kriterium einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Film. Wo die subjektive Prägung durch einen Einzelnen, den Regisseur, zur dominanten Bezugsgröße für die Kritik wurde, blieben die Beiträge von Produzenten, Drehbuchautoren, Kameraleuten, Filmarchitekten, Kostümbildnern, Komponisten, Choreographen und Cuttern weitgehend unberücksichtigt.
 
Schon früh hatten europäische Produzenten Strategien entworfen, um dem Jahrmarktsimage des Films entgegenzutreten. Statt wie zuvor unbekannte und ungenannte Darsteller einzusetzen, verpflichteten sie im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts renommierte Theaterschauspieler, die das junge Medium aufwerten und ein bildungsbürgerliches Publikum anlocken sollten. Auch das amerikanische Studiosystem setzte auf die individuelle Attraktivität von Schauspielern, um das Publikum an seine Produkte zu binden: Die Stars verkörperten die unerfüllten (erotischen) Sehnsüchte und Wünsche des Publikums, boten aber auch Gelegenheit zur Identifikation. Im öffentlichen Bild des Stars verschmolzen die Leinwandrollen mit einem durch aufwendige Werbekampagnen lancierten, fiktiven Bild ihres Privatlebens.
 
Während diese Personalisierung kommerzielle Zwecke verfolgte, hatten europäische Regisseure in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ein anderes Ziel. Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis erklärten sie sich zu Autoren. Wie Literaten begriffen sie sich als alleinige künstlerische Urheber ihrer Werke. Tatsächlich verliehen die veränderten Produktionsstrukturen jener Zeit den Regisseuren ein hohes Maß an Kontrolle: Wie in der Frühzeit des Films lag die Verantwortung für Drehbuch, Regie und Schnitt in einer Hand. Seitdem existieren weltweit verschiedene Produktionsformen nebeneinander - von individuell geprägten Filmen mit geringem Budget bis zu Hunderte von Millionen teuren »Blockbustern«, und eine regisseurfixierte Sicht auf das Kino wird dieser Vielfalt nicht gerecht.
 
Gerade in der Kollektivität des Schaffensprozesses liegt jedoch die einzigartige Qualität des Mediums Film, in dem sich künstlerische Fantasie und handwerkliches Geschick, Vorstellungen und Erfahrungen von Menschen mit verschiedenen kreativen Berufen verbinden. Zudem findet selbst in hochgradig artifiziellen Studioproduktionen eine - wie Siegfried Kracauer sagt - »Errettung der äußeren Wirklichkeit« statt: So geben noch historische Kostümfilme Auskunft über den zeitgenössischen Mode- und Einrichtungsgeschmack, und Sciencefictionfilme veranschaulichen moderne Architektur und avantgardistisches Design. Der Film ist Dokument und Interpretation von Wirklichkeit zugleich; stets legt er Zeugnis ab von kollektiven Ängsten und Hoffnungen, Neurosen und Sehnsüchten. Politische und soziale Strömungen fließen genauso in ihn ein wie kulturelle.
 
Selbst das Genrekino mit seinen standardisierten Formen des Erzählens und des Darstellens ist durchlässig für diese Einflüsse: Im festgefügten Rahmen einzelner Genres findet eine ästhetisch vermittelte Auseinandersetzung mit den Zuständen der Gesellschaft und ihren Institutionen statt. So dokumentiert beispielsweise die Geschichte des amerikanischen Westerns den Wandel der Beziehung zwischen individueller Freiheit und deren Einschränkung durch ein Kollektiv. Der Film greift Phänomene aus der Hoch- und vor allem der Populärkultur auf: Sprache und Rituale, Musik und Mode. Wie ein Seismograph registriert er die äußeren und inneren Veränderungen der Gesellschaft, er integriert traditionelle und aktuelle Ausdrucksformen. Der Film - Kunst unserer Zeit - kann als Synthese aller Künste gesehen werden.
 
Dr. Daniela Sannwald/Robert Müller
 
 
Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, herausgegeben von Thomas Koebner. 4 Bände. Sonderausgabe Stuttgart 21998.
 
Geschichte des deutschen Films, herausgegeben von Wolfgang Jacobsen u. a. Stuttgart u. a. 1993.
 
Geschichte des internationalen Films, herausgegeben von Geoffrey Nowell-Smith. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 1998.
 
Sachlexikon Film, herausgegeben von Rainer Rother. Reinbek 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Film — Schicht; Vergütung; Belag; Streifen (umgangssprachlich); Lichtspiel; Diafilm; Fotofilm * * * Film [fɪlm], der; [e]s, e: 1. [zu einer Rolle aufgewickelter] Streifen aus einem mit einer lichtempfindlichen Schicht überzogenen Material für… …   Universal-Lexikon

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